1828 - Der politische Umsturz in Appenzell
Vorläufer der europaweiten Juli-Revolutionen von 1830
Das selbstherrliche Gebaren der in restaurativem Denken gefangenen Obrigkeit löste unter der Innerrhoder Bevölkerung in den 1820er-Jahren wachsenden Unmut aus. Die Oppositionellen verlangten demokratische Reformen, Erweiterung der Volksrechte sowie die Drucklegung der bis dahin nicht veröffentlichten Kantonsverfassung von 1814. Zur breiten Volksbewegung wuchs dieser Protest heran aufgrund der Unzufriedenheit mit der Verwaltung der Innerrhoder Allmenden, der sogenannten Gemeinmerker. Bis dahin bestimmten allein die politischen Behörden über die Regeln der Nutzung, während die eigentlichen Nutzniesser, die Mendle-Genossen, wenig dazu zu sagen hatten. Unter dem Druck der unruhigen Öffentlichkeit sah sich der Grosse Rat gezwungen, Zugeständnisse zu machen. So konnte am 28. Mai 1826 die erste 'richtige' Mendlegemeinde, eine Versammlung aller Nutzungsberechtigten, unter Leitung der Lehner Rhodshauptleute durchgeführt werden. Die Gemeinde hatte die Kompetenz, selber Bannwarte zu wählen, den Auftriebstag für das Vieh zu bestimmen und die Auftriebstaxen festzulegen, verlief aber derart unruhig, dass der Grosse Rat auf den 4. Juni 1826 eine Wiederholung anordnete.
Die zweite Mendlegemeinde fand am 20. Mai 1827 statt und endete wiederum in einem Tumult. Eine Woche später war die Neuauflage vorgesehen und zwar unter der Leitung eines Landesbeamten, des Pannerherrn. Als dieser beim Behördenantrag, die Mendleweid weiterhin dem Armenpflegamt zur Nutzung zu überlassen, sich weigerte, die ablehnende Mehrheit anzuerkennen, endete die Versammlung in einem grossen Aufruhr. Die Stimmung in der Innerrhoder Öffentlichkeit war inzwischen auf dem Siedepunkt. Im Verlaufe der Grossratssitzung vom 18. Juni 1827 rottete sich eine Menge von 200 bis 300 Personen vor dem Rathaus in Appenzell zusammen und bedrohte die Grossräte beim Verlassen des Gebäudes. Nachdem die Behörden mit grosser Mühe Herr der Lage geworden waren, wurden die beiden Mendlebannwarte Rechsteiner und Herrsche wenige Tage später als Rädelsführer verurteilt.
Dieses Vorgehen liess sich die Bevölkerung nicht länger bieten. An der Landsgemeinde 1828 wurde ein Grossteil der aus honorigen Familien stammenden Landesbeamten abgewählt. Dafür ernannte das Volk die beiden zuvor noch angeklagten Mendlebannwarte Herrsche und Rechsteiner zum Armleutsäckelmeister bzw. zum Landschreiber. Dieser demokratische Umsturz machte den Weg frei für die Schaffung der zweiten Innerrhoder Verfassung von 1829. In ihr wurde das heute noch geltende Recht der Einzelinitiative eingeführt. Der Bestimmung, dass ein einziger Stimmberechtigter die Abänderung von Verfassungsartikeln und Gesetzen beantragen kann, kam hohe Symbolkraft zu. Der Weg war frei für die allmähliche Ablösung des alten Obrigkeitsstaates. In dieser Atmosphäre des Umbruchs wurde sogar die Rehabilitation des 1784 zu Unrecht zum Tode verurteilten Landammanns Anton Joseph Sutter (1720-1784) möglich, auch dies ein Anliegen, das seit Jahrzehnten im Volk gegärt hatte.