Bericht administrative Zwangsmassnahmen im Kanton Appenzell I.Rh. 1930 - 1981
Die Standeskommission liess die Praxis der administrativen Zwangsmassnahmen im Kanton Appenzell I.Rh. zwischen 1930 und 1981 durch die Historikerin Iris Blum aufarbeiten. Entstanden ist ein Bericht der eindrücklich aufzeigt, wie die damaligen Behörden handelten und wie sich die Massnahmen auf das Schicksal der betroffenen Personen auswirkten.
Die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen des Bundes schätzt, dass in der Schweiz zwischen 1930 und 1981 etwa 20’000 bis 40'000 Menschen administrativ versorgt wurden. Der nun für Appenzell I.Rh. vorliegende Bericht von Iris Blum «Mein Leben wäre nämlich kaputt, wenn ich in eine Anstalt müsste» geht davon aus, dass im besagten Zeitraum schätzungsweise 160 bis 220 Personen administrativ versorgt wurden.
Administrativ versorgt wurden Personen, die in den Augen der zuständigen Behörden einen sogenannt «liederlichen Lebenswandel» führten, «arbeitsscheu» oder «gefährdet» waren oder als «Gefahr für die öffentliche Ordnung» galten. Diese Praxis war durch einen gesellschaftlichen und politischen Konsens gestützt und entsprach den verbreiteten und akzeptierten bürgerlichen Moral- und Wertvorstellungen. Die administrativen Versorgungen wurden deshalb von der breiten Bevölkerung bis Mitte der 1970er-Jahre kaum hinterfragt.
Der nun vorliegende Bericht ist der zweite, den die Standeskommission im Rahmen des «Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» in Auftrag gegeben hat. Im Jahr 2017 wurde der Bericht «Draussen im Heim» veröffentlicht, der die Geschichte der fremdplatzierten Kinder im Kinderheim Steig bei Appenzell aufarbeitete. Im gleichen Jahr hat der Kanton Appenzell I.Rh. einen Beitrag von Fr. 200'000.-- an den eidgenössischen Solidaritätsfonds geleistet. Die Standeskommission möchte mit dem neusten Bericht die Praxis und das Ausmass der administrativen Zwangsmassnahmen im Kanton aufzeigen und festhalten.
Aufbau und Inhalt des Berichts
Die Autorin Iris Blum stellt in ihrem Bericht zunächst beispielhaft Betroffene von administrativen Versorgungen ins Zentrum, deren Schicksale sie in kürzeren und längeren Biografien beschreibt. Die Porträts basieren auf der guten Quellengrundlage im Landesarchiv Appenzell I.Rh. und im Bezirksarchiv Oberegg: Die teils sehr umfangreichen Fallakten umfassen neben dem Schriftgut der involvierten Amtsstellen und Behörden meist auch persönliche Schreiben und Bittbriefe, die die Sichtweise der Betroffenen wiedergeben. Gleichwohl dominiert in den Akten die Behördensicht, weshalb Blum bei den Porträts von «Aktenbiografien» spricht. Die einleitenden Fallgeschichten dokumentieren deshalb nicht nur die persönlichen Schicksale, sondern sie geben auch Einblick in die damalige Behördenpraxis.
Auf die Durchführung von Interviews mit Betroffenen wurde verzichtet. Die Suche von Interviewpartnerinnen und -partnern und deren wissenschaftlich korrekte Befragung hätte den gegebenen Projektrahmen gesprengt. Auch hätten Betroffene vor allem eingeschränkt über die Zeit nach 1960 Auskunft geben können.
Die weiteren Kapitel des Berichts von Iris Blum sind den gesetzlichen Grundlagen der administrativen Versorgungen im Kanton Appenzell I.Rh., der Eruierung der Betroffenenzahlen, den involvierten staatlichen und privaten Akteurinnen und Akteuren, dem Anstaltsalltag und der Herkunft von versorgten Menschen gewidmet. Blum stellt ihre Erkenntnisse laufend in den Kontext der Ergebnisse der UEK Administrative Versorgungen und bündelt sie in einem konzisen Fazit.
Zu grosser Ermessensspielraum für die Verantwortlichen
Die Praxis der administrativen Versorgungen im Kanton Appenzell I.Rh. ist mit der Situation in anderen eher kleinen, ländlich geprägten Kantonen vergleichbar. Eine schlanke Verwaltung, Personalengpässe und vage formulierte gesetzliche Grundlagen führten zu einem grossen Ermessensspielraum auf Seiten der Verantwortlichen. Die Standeskommission entschied auf Antrag von Amtsstellen, Behördenmitgliedern oder Vormündern über die Versorgung von Menschen, die ein Leben jenseits der damals geltenden Moral- und Wertvorstellungen führten, führen mussten oder führen wollten. Die Rechtsmittel gegen Versorgungsentscheide waren schlecht ausgebaut, gerichtliche Rekursinstanzen fehlten weitgehend. Widerspruch verschlechterte die ohnehin prekäre Situation der Betroffenen.
Die meisten der etwa 200 Betroffenen besassen Risikomerkmale, die eine Versorgung beförderten. Dazu gehörten besonders ledige Mütter und ihre unehelichen Kinder, junge wie ältere, arbeitslose und geschiedene Männer, Menschen in schwierigen Familien- und unsicheren Arbeitsverhältnissen oder Angehörige der jenischen Gemeinschaft. Gemeinsames Merkmal dieser Gruppen war ihre Armut. Viele Betroffene waren vor einer Versorgung fürsorgerisch unterstützt worden. Die Internierung in einer Arbeitsanstalt sollte Betroffene deshalb nicht nur an ein tätiges, geregeltes Leben gewöhnen, sondern entlastete auch das Fürsorgesystem. Dieses stand in einem kleinen Landkanton wie Appenzell I.Rh. unter einem enormen Druck, denn es musste im Rahmen des damals noch geltenden Heimatprinzips für die zahlreich auswärts wohnenden Bürgerinnen und Bürger aufkommen.
Die umfangreichen Fallakten zeigen aber auch, wie Informationen von Behörde zu Behörde weitergereicht wurden. Vorurteile und Wertungen von Akteurinnen und Akteuren wurden laufend verschriftlicht, abgelegt, wieder hervorgeholt, weiterverwendet und in neuen Schriftstücken wiederholt und fortgeschrieben. Sie entwickelten so ein Eigenleben, auf das die Betroffenen kaum mehr Einfluss hatten.
Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts
Die beiden Berichte – der nun veröffentlichte Bericht über die administrativen Zwangsmassnahmen und der Bericht zur Geschichte der fremdplatzierten Kinder im Kinderheim Steig von 2017 – zeigen einerseits auf, wie und aus welchen Überlegungen heraus die damaligen Behörden handelten und andererseits, welche Reaktionen die Massnahmen bei den Betroffen und Angehörigen auslösten. Es geht in beiden Berichten nicht darum, die für solche Massnahmen zuständigen Behörden und Personen zu verurteilen, sondern zu sensibilisieren: Zum einen können Betroffene über Jahrzehnte hinaus bis in die Gegenwart von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen beeinträchtig sein. Zum anderen gilt es, aktuelle Praxen und Verfahren von Behörden immer wieder sowohl auf deren Verhältnismässigkeit als auch auf die gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen hin zu überprüfen.
Die Standeskommission anerkennt mit der Aufarbeitung dieser belasteten Kapitel der jüngeren Innerrhoder Geschichte das erlittene Unrecht der Menschen, die unter den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gelitten haben. Und sie übernimmt mit ihrem Beitrag in den Solidaritätsfonds für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen die Verantwortung für das noch anhaltende Leid. In der Zwischenzeit durften mehrere Opfer und andere Betroffene aus Innerrhoden einen einmaligen Solidaritätsbeitrag von Fr. 25'000.-- aus dem Fonds entgegennehmen. Einige von ihnen haben zudem die Möglichkeit genutzt und für die Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte die Beratung und Unterstützung des Landesarchivs Appenzell I.Rh. in Anspruch genommen. Damit wird gegenüber den Opfern ein Zeichen der Anerkennung und Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts gesetzt, das auch Ausdruck der gesellschaftlichen Solidarität ist. Betroffene Personen haben weiterhin und zeitlebens die Möglichkeit, beim Bund ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag einzureichen.
Mit der historischen Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung wird aber auch aufgezeigt, wie es zu dieser Praxis gekommen ist und welche gesellschaftlichen Haltungen das Unrecht ermöglichten und zusätzlich verstärkten. Schliesslich möchten beiden Berichte das Bewusstsein schärfen, wie heikel und einschneidend behördliche Eingriffe in die Privatsphäre eines einzelnen Menschen sein können.
Vorstellung des Berichts
Die Autorin Iris Blum stellt den Bericht «Mein Leben wäre nämlich kaputt, wenn ich in eine Anstalt müsste» am Dienstag, 29. Oktober 2024, um 19 Uhr im Theatersaal des Gymnasiums St.Antonius vor. Die Standeskommission lädt alle interessierten Personen zur Präsentation ein, welche den Auftakt zu einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe zum Thema «Administrative Versorgung» bildet und in Zusammenarbeit mit dem Historischen Verein Appenzell entstanden ist. Am Montag, 11. November 2024, findet um 19 Uhr im kleinen Ratssaal Appenzell mit Iris Blum, Beat Gnädinger, Mitglied der UEK Administrative Versorgungen, und Christian Winkler, Co-Autor der Studie über die Zwangsarbeitsanstalt Gmünden AR, eine Gesprächsrunde über administrative Versorgungen in der Schweiz statt. Am Dienstag, 26. November 2024, findet um 19 Uhr wiederum im kleinen Ratssaal mit der Autorin Jolanda Spirig ein Filmabend zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz statt.
Der Bericht kann ab 29. Oktober 2024, 19 Uhr, unter www.ai.ch/berichte heruntergeladen werden. Einzelne gedruckte Exemplare können auch bei der Ratskanzlei, Marktgasse 2, 9050 Appenzell, bezogen werden.